Roberta Meloni erinnert uns daran, warum die Bewegung des Radikalen Design so fantastisch ist
Kinder der Revolution
Im derzeitigen bizarren politischen Klima ist es herzerwärmend mit einer Frau zu sprechen, die an ihren Idealen festhält. Seit der Zeit ihres Architekturstudiums an der Universität Florenz in den 1980er Jahren ist Roberta Meloni eine Meisterin der erhebendsten Prinzipien des Radikalen Designs geblieben, dazu zählen der Vorrang der Zusammenarbeit, der Kreativität und der Ausdrucksfreiheit. Als CEO von Centro Studi Poltronova ist sie zudem bestrebt, die Artefakte der Gegenkultur der 1960er Design-Ära zu erhalten und die Produktion ihrer ikonischen Stücke fortzuführen, zu denen Archizooms Supersonda Sofa (1967), Ettore Sottsass' Ultrafragola (1970) und De Pas D'Urbino & Lomazzis Joe Chair (1970) gehören, um nur einige zu nennen. Ihre Geschichte handelt vom Kampf für das, woran man glaubt.
In den 1960er und 70er Jahren widmeten sich viele italienische Möbelunternehmen dem Anti-Design Zeitgeist, doch keines so voll und ganz wie es Poltronova tat. Das lag zum einen an dem kunstliebhabenden Gründer und zum anderen am Zufall bei der Ortswahl. Sergio Cammilli gründete Poltronova 1957 unmittelbar nördlich von Florenz. Im Folgejahr richtete er den künstlerischen Fokus auf den visionären jungen Sottsass, der zu jener Zeit noch Keramiken für das in der Toskana ansässige Unternehmen Bitossi entwarf.
In den frühen Jahren produzierte Poltronova stilsichere Möbel nach modernem, nahezu skandinavischem Vorbild, doch Cammilli und Sottsass wollten etwas Gewagteres. Ihre Nähe zu Florenz bedeutete, dass sie Sitze in der ersten Reihe bei den theatralischen Events der ansässigen ikonoklastischen Architekturstudenten hatten. Tief beeindruckt von Superstudio und Archizooms mittlerweile legendären Superarchitettura Ausstellung in der Galleria Jolly 2 in Pistoia 1966, warben Cammilli und Sottsass die jungen Rebellen an, um Kollektionen für Poltronova zu produzieren. Sie beauftragten außerdem Archizoom mit dem Design der neuen Fabrik des Unternehmens und mit der Organisation von verschiedenen Veranstaltungen in den Räumen der Firma, wozu unter anderem Poesielesungen und Meditation Workshops mit Allen Ginsberg gehörten. So kam es, dass die Geschichte des Designs an dieser Stelle einen völlig neuen Kurs einschlagen sollte.
„In den ersten 20 Jahren, in denen Cammilli Poltronova leitete, hatte das Unternehmen eine klare und deutliche Identität, die progressive Designs mit neuen Technologien und hochwertigem Handwerk verband.“, erklärt Meloni. Doch nachdem er und Sottsass in den 1970er Jahren Poltronova verließen, investierte das neue Management in der Hoffnung auf die Steigerung des Profits in industriellere und kommerziellere Ausrichtung. Um 1985 war Poltronova nicht wiederzuerkennen und hatte Schwierigkeiten ein Publikum zu finden – bis Meloni zur Rettung kam.
WC: Wie sind Sie zu Poltronova gekommen?
RM: 1985 studierte ich Architektur in Florenz. Dank der Lehre von Professor Gianni Pettena [einem der renommierten Verfechter der Radikalen Bewegung] und dem berühmten Buch La Casa Calda von Andrea Branzi, verliebte ich mich in Poltronova. Meine Abschlussarbeit befasste sich mit dem Unternehmen und ich arbeitete seit einiger Zeit in den Archiven. Mitte der 1990er Jahre gelang es mir als Interessenvertreterin gegen den CEO anzugehen, um das Poltronova Vermächtnis wiederzubeleben und zu erhalten. Ich arbeitete auch mit den Künstlern in der Fabrik zusammen, um so viel wie möglich über die Produkte, Materialien und technische Vorgänge zu erfahren.
Mit Hilfe von Ettore Sottsass wurde ich im Jahr 2000 Eigentümerin und begann die Archive zu organisieren, um Produkte, die nicht mehr hergestellt wurden, sowie Produkte, die es nicht über die Designphase hinaus geschafft haben, neu herauszubringen. Im Jahr 2005 gründete ich Centro Studi Poltronova, um mein facettenreiches Businessmodell offiziell zu machen.
WC: Wie sah Ihre Vision für Centro Studi Poltronova aus, als Sie anfingen?
RM: Als ich das Management des Unternehmens übernahm, gab es keine Kommunikationsabteilung. Ich glaubte, der beste Weg der Welt mitzuteilen, dass Poltronova noch existiert, wäre ein groß angelegtes Rechercheprojekt in den außergewöhnlichen Archiven von Poltronova, die seit über zwei Jahrzehnte nicht angerührt wurden. Das war nicht nur wichtig, um ein akkurates Firmenprofil zu entwerfen und die Firmengeschichte zu sichern, sondern auch um all die kreativen Beteiligungen zu dokumentieren, die Projekte ebenso wie die Ideale. Durch die Zusammenarbeit mit Francesca Balena Arista, einer Historikerin des Politecnico di Milano, wurde die Recherchearbeit wegweisend für den Wiederaufbau von Centro Studi Poltronova.
Centro Studi erfüllt heutzutage verschiedene Aufgaben. Auf der einen Seite bietet es ein Nachforschungszentrum für Studenten und Historiker, auf der anderen Seite versorgt es die Öffentlichkeit mit Ausstellungen und Publikationen. Und natürlich bedient es auch den privaten Sektor durch die Produktion von ikonischen Designobjekten aus dem Katalog auf Auftragsbasis.
WC: Was denken Sie, macht Poltronova so besonders und dessen Erhalt so bedeutend?
RM: Es gab nie Etwas, das Poltronova ähnelte! Während andere Designunternehmen ein klar definiertes, ausgefeiltes Konzept von Wohnräumen repräsentierten, stand Poltronova für ein Umfeld ohne Grenzen, in dem Objekte mit unverwechselbarer, meist widersprüchlicher Geschichte entstanden. Poltronovas Gründer lebte von seinem künstlerischen Ursprung und entschied sich, die Gesetze des Marketing bewusst außer Acht zu lassen, um seiner Vorstellung von Design eine visionäre und experimentelle Form zu verleihen, die noch heute in Museen in der ganzen Welt gesammelt und in Geschichtsbüchern bewundert wird.
Unter Ettore Sottsass' künstlerischer Leitung wurde der Firmensitz von Poltronova zu dem Ort für experimentelle Avantgarde, an dem die größten Talente jener Jahre unterstützt wurden und im Gedanken an die Demontage des bourgeoisen Lebensraums vereint waren, und zwar zugunsten neuer Wege des Wohnens – farbenfroh und nonkonformistisch. Andrea Branzo beschrieb Poltronova als eine „Radikale Fabrik“, welche durch die Zusammenarbeit mit Architekten wie Gae Aulenti, Archizoom, Superstudio, De Pas D’Urbino & Lomazzi, Paolo Portoghesi, Angelo Mangiarotti, Massimo Vignelli und Giovanni Michelucci
sowie mit Künstlern wie Gianni Ruffi, Ugo Nespolo, Gino Marotta, Mario Ceroli und anderen einen ganzen „Katalog italienischen Designs“ zusammenstellte.
Kaufmännisch betrachtet, war das nicht unbedingt das vielversprechendste Angebot. Ein vollständiger „Poltronova Wohnraum“ war sehr unwahrscheinlich. Es ermöglichte jedoch die Herstellung einiger unvergesslicher Objekte, die sonst nie hätten realisiert werden können.
WC: Warum glauben Sie, finden die Designs von Poltronova heute ein Publikum - so viele Jahrzehnte nachdem sie der Welt erstmalig vorgestellt wurden?
RM: Was ist Poltranova, wenn nicht eine Sammlung extrem visionärer Objekte, weit ihrer Zeit voraus, brutal nonkonformistisch und sinnlich aufgeladen? Sie entstanden aus der Not heraus, kreativ zu sein und nicht aus dem gegensätzlichen Antrieb etwas Praktisches zu erschaffen. Jedes Objekt beansprucht seinen eigenen Platz in der Zeit und erzählt seine eigene Geschichte innerhalb dieses Raumes. Das Superonda Sofa, I Mobili Grigi oder das Safari Sofa, waren – neben vielen anderen – zur Zeit ihrer Entstehung nicht akzeptiert und wurden über viele Jahre nur in kleinen Auflagen hergestellt.
Ettore Sottsass pflegte zu sagen: „Die Möbel, die ich für Poltronova entwarf, waren nicht für die kleinbürgerliche Familie bestimmt, die glücklich und zufrieden ihr Leben lebte, sondern für jene, die sich dem existenziellen Unheil bewusst waren.“ Heutzutage, in einer Welt, in der es wichtiger als je zuvor geworden ist, sich seine Freiräume zu schaffen, wird die Bedeutung und Intention dieser Stücke endlich verstanden. Die Freiheit ungehemmt sein Leben zu leben ist letztlich zum breiten und zeitlosen Konzept geworden.
WC: Auf welche Leistungen mit Centro Studi Poltronova sind Sie besonders stolz?
RM: Seit dieses Projekt vor mehr als zehn Jahren begonnen hat, ist der Name „Poltronova“ stärker als je zuvor in die Szene zurückgekehrt. Es kostete viel harte Arbeit, Zielstrebigkeit und Leidenschaft! Wir haben viele wichtige Projekte entwickelt, wie zum Beispiel die Revival Ausstellungen Superbox von Sottsass oder Superarchitettura von Archizoom und Superstudio. Dank der Archive und der engen Zusammenarbeit mit Archizoom und Superstudio haben wir unseren Angebotskataloge um „zeitlose“ (wie ich sie gerne nenne) und ikonische Objekte erweitert.
Letztes Jahr haben wir mit Fortino Editions Poltronova Backstage herausgebracht, das erste Buch über das Unternehmen seit über 40 Jahren. Das Buch illustriert wie Archizoom, Sottsass und Superstudio Fotografie dazu nutzten, um die Geschichte ihrer Entwürfe zu erzählen, die von Poltronova produziert wurden. 2016 präsentierten wir zudem auf der Design Week in Mailand einige neue Editionen von Superstudio – das Sofo Seating System und andere Objekte aus Kunststoff – sowie ein Schmuckkästchen, dass ursprünglich 1965 von Superstudios Cristiano Toraldo di Francia entworfen wurde. Alle Editionen wurden auch auf der kürzlichen Superstudio '50 Ausstellung im MAXXI Museum in Rom gezeigt.
WC: Was denken Sie, wie lässt sich die Designwelt von Heute mit jener der damaligen Jahre der Radikalen Design Bewegung vergleichen?
RM: Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass ich einen Vergleich dieser beiden Perioden ziehen kann. Die Welt des Designs hat sich in den letzten Dekaden mehr und mehr am Markt ausgerichtet und daher gehen in der Herstellung der Objekte meist Gefühl und Bedeutung verloren, um sie vordergründig in großer Menge an die Masse zu bringen. Das heißt nicht, dass zeitgenössische Stücke qualitativ minderwertiger sind, doch viele schöne Beispiele der Highend-Produktion sind meist frei von Individualität.
In den 60ern gab es keine Designschulen, so hatten Designer meist einen reichen kulturellen Hintergrund an Diversität und Komplexität. In diesen Jahren wurde Design zudem zu einem Instrument der Kommunikation, welches denen eine Stimme verlieh, die mit ihrem Verlangen nach kreativer Freiheit das System in Frage stellten. Die Ruhelosigkeit jener Tage war meist der stressbehafteten Verantwortung des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit geschuldet. Heute liegt der Grund für unsere Unruhe in wirtschaftlicher Schwäche und politischer Umwälzung. Aufgrund dieser Umstände erfährt die Radikale Bewegung nun mehr denn je Beachtung für ihre Fähigkeit zu dekonstruieren, wiederaufzubauen, einzureißen und neu zusammenzusetzen!
Bestimmte Ereignisse der letzten zehn Jahre haben unsere Wirtschaft und soziale Sicherheit geformt, oder eher erschüttert. Die Ungewissheit unseres Schicksals steht heutzutage in starkem Kontrast zu der Zuversicht, die wir vor wenigen Jahren vielleicht noch als selbstverständlich gedachten. Es ist eine verwirrende Welt, in die wir uns hinein bewegt haben und der Wunsch danach, Ideologien und Werte zurückzugewinnen ist stärker als zuvor. Radikales Design visiert eine bessere Welt an und für viele ist dieser Anspruch inspirierender denn je.
WC: Woran arbeitet man bei Centro Studi Poltronova als nächstes?
RM: Ich beabsichtige weiterhin ein Licht auf die histrorischen Beiträge Poltronovas zu werfen und diese mit der Welt zu teilen. Centro Studi Poltrova wird weiterhin Stücke aus den Archiven produzieren lassen. Es wird durch die Herstellung von Objekten, welche heute noch so innovativ und provokativ sind wie zur Zeit ihrer Konzeption, weiterhin die Mentalität des freien Geistes repräsentieren. Die zukünftigen Projekte werden vielleicht oder vielleicht nicht alle umgesetzt werden. Davon unabhängig bleiben wir dem Versprechen des Unternehmens treu, die Ausdrucksfreiheit über alles andere zu stellen.
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Text by
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Wava Carpenter
Seit ihrem Studium in Designgeschichte an der Parsons School of Design hatte Wava schon in vielen Bereichen der Designkultur den Hut auf: sie lehrte Designwissenschaft, kuratierte Ausstellungen, überwachte Auftragsarbeiten, organisierte Vorträge, schrieb Artikel und erledigte alle möglichen Aufgaben bei Design Miami. Wava lässt den Hut aber im Büro – auf der Straße bevorzugt sie ihre Sonnenbrille.
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