Émilie Voirins D’après Kollektion interpretiert alte Klassiker neu


Neu interpretiert

Von Rachel Miller

Den Begriff der Neuinterpretation gab es schon immer. In den letzten Jahrzehnten ist er in Form unserer Wiederverwertungskultur besonders hervorgestochen. Heute fühlen sich fachübergreifende Zusammenstellungen, die Raum, Zeit und Grenzen überschreiten, als maßgeblich für die Designwelt an. Sehe ich mir beispielsweise Émilie Voirins D’après Kollektion an, so fällt mir vor allem der das 21. Jahrhundert bestimmende Ansatz ein, in dem Archäologie und Erfindung gleichgesetzt werden. Wie ein DJ, der seine Playlist zusammenstellt, schnappt die D’après Kollektion ikonenhafte westliche Designformen auf—Stühle von Charles and Ray Eames, Frank Gehry, Verner Panton, Eero Saarinen und Michael Thonet—um sie anhand von bescheidenen Stoffen und Handwerkstechniken, die mit dem Osten assoziiert werden, neu zu interpretieren. Während eine Erdhalbkugel aus der Tradition heraus Originalität als wichtigstes Merkmal anpreist, wird der anderen ein flagrantes Kopieren nachgesagt. Voirins Projekt umfasst beide Welten und führt gleichzeitig Neues herbei.

Voirins Inspiration für die Kollektion stammt von einem Workshop in Peking, an dem sie 2008 im Rahmen ihres Masterstudiums an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris teilnahm. Dort freundete sie sich mit ihrem Klassenkamerad und Designer Jérôme Nelet an. Zusammen gestalteten die beiden den berühmten LCW Stuhl (1953) von Eames neu, indem sie das geformte Schichtholz mit Rattan ersetzten. Sie wollten die Auswirkungen des Einsatzes von Maschinen kopierenden handgewebten Materialien auf Ästhetik, Struktur und Proportion beobachten. „Unsere Interpretation führte zu einem neuen Verständnis in der Betrachtung der originalen Meisterstücke“, so Voirin. „Für mich ist es besonders wichtig, dass die Ästhetik mit der Hintergrundgeschichte einhergeht. Das Konzept versorgt die Ästhetik und andersrum.“ Der D’après Eames prämierte im selben Jahr auf der Ambiente Messe in Frankfurt.

Nach dem Erfolg ihrer ersten Zusammenarbeit, arbeitete Voirin an ihrer eigenen Kollektion. Dieser fügt sie drei neue Interpretationen hinzu, nämlich D’après Panton, D’après Gehry und D’après Thonet (alle 2008). Fünf Jahre später führte sie D’après Saarinen (2013) ein. Wie schon beim D’après Eames ersetzen Rattan oder Bambus bei den neuen Stücken das ehemalige innovative Material der Designikonen.

Voirins Bambusversion des Wellpappe Wiggle Beistellstuhls (1972) von Architekt und Designer Frank Gehry aus Amerika ist eine Überspitzung der organischen, skulpturalen Form des Originals. D’après Thonet wiederum ist dem Nr. 14 Café Stuhl (ca. 1859) von Michael Thonet nachempfunden und spiegelt ihn in gewisser Weise sehr deutlich wider. Der Nr. 14 Café Stuhl gilt gemäß dem Vitra Design Museum als einer der erfolgreichsten Stühle in der Geschichte der industriellen Massenproduktion. Der einfache Rattan von D’après Saarinen erzielt, was Eero Saarinens hochmoderner Tulip Prototyp der 1950er nicht geschafft hat: es war die Absicht des Designers gewesen, einen Stuhl aus einem einzigen Material zu konzipieren. Dafür war die nötige Technik damals jedoch noch nicht vorhanden.

D’après Panton stellt ästhetisch wie strukturell die wohl beeindruckendste Neuinterpretation in der Kollektion dar. Der Avantgarde Designer Verner Panton besaß eine große Leidenschaft für Kunststoff und andere neue Materialien und nutzte sie, um farbenfrohe, leuchtende, biomorphe Formen zu erzielen, die von der Pop Art inspiriert waren. Sein ikonischer Panton Stuhl (1960) war der erste Freischwinger, der aus einem einzigen Stück Kunststoff erzeugt wurde. Voirins Version in einem erdigen Rattan komplementiert auf wunderschöner Art und Weise die der Schwerkraft trotzenden Windungen.

Ad'après Saarinen chair by Emilie Voirin & Jérome Nelet Image © Philip Radowitz
Voirins Material und ihre strukturellen Versuche räumen ihrem Werk einen Platz im Stammbaum westlichen Designs ein, der von den Eameses und anderen modernen Visionären errichtet wurde. Ihre Fragen zur Identität sind das Ergebnis ihrer Asienreisen und infolgedessen auch ihren Blick auf unsere globalisierte Welt. „Als ich in China war, war ich entsetzt darüber, wie Reproduktionen oftmals ohne Respekt für die originalen Materialien und Proportionen produziert werden“, so Voirin. Madeinchina, der ursprüngliche Name der Kollektion, war als Kommentar gedacht, gerichtet an Fälschungen und an die übermäßige Abhängigkeit des Landes auf billige Arbeitskräfte und Produkte für den Export in die westliche Welt.

Durch die Reproduktion und Neuinterpretation solcher historischen, ikonenhaften und beliebten Designs, geht Voirin das Risiko ein, für das Verwerfen von Originalität kritisiert zu werden. Mit dieser Kollektion aber überschreitet Voirin bestimmte Vorstellungen, die kulturell verwurzelt sind, wie beispielsweise die „Zeitlosigkeit“. Sie beweist damit nicht nur, dass Maßstäbe immer neu gestaltet werden können, sondern auch, dass sich unsere Wahrnehmung von dem, was zeitgemäß ist, ständig wandelt. „Design ist wie eine Zeitmaschine“, meint Voirin. “Es nutzt Teile der Vergangenheit und der Gegenwart und liefert Ansätze für die Zukunft. Grenzen überschreitende Neuinterpretationen sind nicht eindeutig, aber es gibt in der Produktion klare Trends und wechselnde ethische Maßstäbe. Vor allem glaube ich, dass es darum geht, einen neuen Kontext mit neuen Parametern, Stoffen und Gedanken zu erschaffen.“ 

 

Das Werk von Voirin wurde in renommierten Museen weltweit ausgestellt, darunter das Fonds National d'Art Contemporain in Paris. D’après Gehry und D’après Panton sind Teil der Dauerausstellung der Neuen Sammlung des Design Museums in München, D’après Saarinen wurde durch das Badisches Landesmuseum in Karlsruhe erworben.

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    • Rachel Miller

      Rachel Miller

      Rachel kommt aus Kalifornien, USA. Derzeit lebt sie in Berlin und macht in Literaturwissenschaften ihren Master. Wenn sie nicht gerade liest oder schreibt, ist sie auf der Suche nach Berlins bestem Craft Bier. Ihre Reiselust inspiriert sie zu großen Abenteuern an verschiedensten Orten auf der Welt sowie zuhause in ihrer Küche.