Entdecke die Schätze des Industrial Stils


Raue Schönheit

Von Gretta Louw

Flüstert man das Stichwort Industriestil  funkeln die Augen eines jeden Design-Liebhabers. Würde man jedoch eine Momentaufnahme eines jeden Gedankenbildes machen, kämen verschiedenste Assoziationen dabei zum Vorschein. Die Einen denken an minimalistische harte Kanten, wie man sie häufig an massiven Bücherregalen aus Metall findet und an mächtige  Chesterfield Sofas aus Leder, wie sie in offenen Lofts mit freigelegtem Ziegel und aufpoliertem Zement genutzt werden. Die Anderen sehen eher eine vielseitige Anordnung von historischen Artefakten, die den Duft von Nostalgie versprühen: eine sichtbar gebrauchte Kirchenbank aus Eiche; einen verstellbaren  Scheinwerfer eines Marineschiffs; einen Klassenzimmerstuhl aus Sperrholz; einen Stahlschrank aus einem englischen  Kurzwarenladen.   Die vielen Befürworter des industriellen Stils haben zwar ihre individuellen Vorlieben, teilen aber die Wertschätzung der Vergangenheit und eine unerschütterliche Hingabe bei der Zelebrierung von Inhalt statt Oberfläche. Auch bei einer anderen Sache sind sich alle Fans des industriellen Designs einig: „Früher war alles besser“.

Der Name ist von der industriellen Revolution abgeleitet, bei der aufgrund des schnellen Wachstums des Fabriksystems die Mehrheit der Bevölkerung zu Fabrikarbeitern umgeschult wurde. Eine Fabrikeröffnung im 19. sowie 20. Jahrhundert bedeutete eine dermaßen große Investition, dass es nur sinnvoll war die Einrichtungen der Fabrikhallen so nüchtern wie möglich zu halten. Auch die hierzu verwendeten widerstandsfähigen Materialien, wie Metalle und Bauholz, waren frei von dekorativen Details. Die originalen Fabrikausstattungen, das Herz des heutigen industriellen Stils, begannen als zweckerfüllende Objekte, mit klaren Linien, freiliegenden Verbindungsstellen und funktionellen Konstruktionen. Mit der Zeit begleitete die vergangenen formalen, klaren Strukturen eine mit Nostalgie gefüllte Aura, die sich als Gegenbewegung zum gegenwärtigen Trend von charakterlosem und ersetzbarem Mobiliar positionierte.

Die ungarischen Händler Ákos Szabó und Sára Kóger von  Ateria kennen sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit gut aus. Die beiden sehen den heutigen Industrial Style als eine Bewegung, die aus einem einfachem Bedarf entstanden ist. In den 1960ern und 70ern begannen Künstler, wie Judd, Warhol und Basquiat, nach großen, bezahlbaren Arbeits- und Wohnflächen zu suchen, um dort die geradlinige Ästhetik von verlassenen Fabrikräumen mit einzubeziehen. Dieser Trend zog sich danach unter anderem durch London, L.A. und Berlin. „Es war kein geplanter Stil, sondern vielmehr eine natürliche Adaption der postindustriellen Umstände, die sich später zu einem coolen Trend entwickelte“, erklären die beiden. Szabó führt weiterhin aus, dass durch die Gentrifizierung, die die Flächen der Künstler für die Mittel- und Oberschicht progressiv zurückverlangte, die Menschen damit begannen, einen Wert in den einfachen, geometrischen, klaren Formen aus rauen Materialien zu sehen und sich somit Gebrauchsgegenstände zu begehrenswerten Objekten entwickelten. Es scheint kein Zufall zu sein, dass der industrielle Stil seinen Höhepunkt erlangte als der Markt mit aalglatten, manche würden sagen charakterlosen, Stücken überflutet wurde, die aus glänzendem Chrom sowie Hochleistungskunststoffen gefertigt wurden. Der Wunsch nach einer Alternative mit mehr Persönlichkeit war geboren.

Während der Trend zum industriellen Stil stetig wächst, sind dessen Interpretationen individuell bedingt. Nachdem das Entdecker- und Künstler-Duo, das hinter Arteria steht, aus London nach Ungarn zurückkehrte, machten sie sich daran, ein perfektes Nest für ihre Prachtstücke zu finden. Ihre Sammlung bestand aus „rostigen Rohrleitungen für die Küche, aufgearbeiteten Tischlampen für unseren Arbeitsplatz sowie Werkstatthockern im Esszimmer“. Die Komplimente und Fragen nach dem „Woher?“ ließen nicht lange auf sich warten.

Die meisten ihrer Stücke fanden Szabó und Kóger in einer verlassenen Fabrik in der Nähe ihrer Heimatstadt. Die Hauptinspiration schöpft das Paar aus neu entdeckten, verlassenen Flächen und nennt das Gefühl den richtigen Ort gefunden zu haben, der trotz Zeit und Staub erhalten geblieben ist, unbeschreiblich. Mit Liebe, Können und Fingerspitzengefühl, erwecken die beiden Abgenutztes zum Leben ganz nach ihrem Leitsatz „Menschen glauben, dass jedes Stück seine eigene Geschichte birgt.“

Jacqueline Latham aus dem walisischen Vintage Shop  Unique Vintage Industrial hat einen ganz anderen, praktischeren Grund für ihre Faszination für industrielles Design. Durch ein Elternhaus, welches keine Toleranz für Verschwendung hatte, entwickelte sie die Passion ausrangierten Objekten neues Leben zu verleihen. Dazu kommt, wie Szabó und Kóger betonen, „dass Leute zu der Erkenntnis gekommen sind, dass weniger Konsum und dafür etwas Brauchbares aus etwas Bestehendem zu machen viel cooler ist.“

Ich liebe es, etwas zu finden, das ich vorher noch nicht gesehen habe. Patina und Originalität sind alles. Einrichtungen im Industriellen Stil mischen häufig Stücke aus unterschiedlichen Epochen Photo © Vassilis Skopelitis
Der industrielle Stil ist eine Kombination aus aus Altem, Antikem und kreativem Upcycling. In manchen Fällen befinden sich die Stücke unbedeckt in einem einwandfreien Zustand, in anderen braucht es sorgfältiges Reinigen oder eine leichte Restaurierung, die die originale Patina nicht zerstört. Ein  Architekten Zeichentisch aus den 1890ern vom britischen Innenausstatter Drew Pritchard würde sich zum Beispiel als Hingucker und Mittelpunkt mit einem schönen, ausladenden Blumengesteck fantastisch in einer modernen Küche machen. Andere Objekte sind Hybride - verschmelzende Überbleibsel der Vergangenheit im neuen Gewand. Die größte Wirkung wird jedoch manchmal erzielt, indem man obskuren Stücken eine neue Funktion gibt. Diesen Turnbock aus den 1950ern vom niederländischen Händler Mass Modern Design könnte man zum Beispiel zu einem Hocker im Flur, einem Pflanzenständer im Boho- Chic oder einem warmen und einladendem Akzent für den Innenraum umwandeln.

Der industrielle Stil ist vor allen Dingen auch wundervoll anpassungsfähig. Viele der Anhänger schwärmen zwar für das Flair eines Lofts in einer ehemaligen Lagerhalle, jedoch lässt sich ein Hauch vom industriellen Design überall mit einbringen. Pritchard ist ein wahrer Meister was die Zusammenfügung von industriellen Objekten mit Mobiliar aus den verschiedensten Epochen angeht. Somit kreiert er eine Atmosphäre, die eher klassisch als hochmodern wirkt, jedoch den besonderen, unwiderstehlichen Hauch von Rohheit hat. Auf die Frage, wie er diese melodisch zusammengefügte, ausgefallene Einheit kreiert, erklärt Pritchard bescheiden „Ich denke nicht zu viel darüber nach. Ich interessiere mich nicht für Mode oder momentane Trends- es sind die klaren Linien, die Herz in sich haben.“ Dieses sichere, instinktive Gespür ist jedoch kein Zufall. Pritchard erinnert sich: „Mein Vater, der Künstler und Schriftmaler war, hat mir mit sehr jungen Jahren beigebracht mich richtig auf ein Objekt zu konzentrieren und festzustellen was die Vorteile sind und wo die Problematiken liegen. Mit 11 Jahren wusste ich schon, dass ich Antiquitätenhändler werden möchte.“ Was also ist die höchste Priorität eines Händlers, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist, tagtäglich die besten internationalen Innenausstatter als Kunden hat, und gegenwärtig an Projekten wie einem Rockstar-Haus und einem Hotel in China arbeitet? „Ich liebe es etwas zu entdecken, dass noch keiner gesehen hat. Patina und Originalität sind das Maß der Dinge.“

Die Mehrheit ist sich einig, dass eine authentische Patina den industriellen Objekten Magie verleiht, weswegen die angesehenen Händler die Sammler dazu auffordern sich über die Herkunft sowie Ursprung jedes gekauften Teils zu vergewissern. Einige Händler bieten sogar ein individuelles Sourcing-System für die speziellen Interessen ihrer Kunden an. Anna Hopson, vom englischen Shop Wolf & Hare sagt: „Wir sind vom einzigartigen Charakter jedes industriellen Vintage Objekts in unserer Sammlung verzaubert. Statt moderner Nachbildungen, setzen wir auf die gelernte Handwerkskunst, die den Stücken erlaubt sich über den Verschleiß der Zeit hinwegzusetzten und ihnen Charme, Gerissenheit und Originalität verleiht.“

Ob es die Idee ist, dass ein Objekt seine ganz eigene Geschichte erzählt oder Designs die zukunftsweisende Coolness der bahnbrechenden Künstler ausstrahlen, es gibt so viele Argumente, die für den industriellen Stil sprechen: die Stabilität, Robustheit, Ausstrahlung, Geschichte, authentische Patina sowie die ehrliche Entblößung des eigentlichen Zwecks und der Beschaffenheit. Vielleicht sind die Langlebigkeit und Nützlichkeit eine willkommene Abwechslung zu unserer durchgeplanten Wegwerfkultur. Oder, wie Latham schwärmt „es strahlt einfach Pracht aus.“ Welcher dieser Gründe auch immer zutreffen mag, der industrielle Stil ist nicht mehr wegzudenken und die Möglichkeiten für kreatives Innendesign scheinen nahezu endlos. 

  • Text by

    • Gretta Louw

      Gretta Louw

      Die multidisziplinäre australische Künstlerin Gretta wurde in Südafrika geboren und lebt zurzeit in Deutschland. Sie ist Sprachenthusiastin und Weltenbummlerin, hat einen Abschluss in Psychologie und eine große Vorliebe für die Avantgarde.