Die Besten auf der Salone 2016 aus Sicht der Experten


Designbewegungen

Diesen Monat begaben sich Designliebhaber zum wiederholten Male nach Mailand, um die jährlich stattfindende und spannende Design Week mitzuerleben, die sich als so aufregend wie eh und je erwies. In der Stadt verstreut wurden hunderte von Ausstellungen präsentiert, die Designklassiker bis hochaktuelle Neuheiten zeigten. Und natürlich wurden zahlreiche Negronis umhergereicht.

Inmitten der ganzen Aufruhr stachen ein paar ausgewählte Ausstellungen besonders hervor. Wir sprachen mit einigen der meist angesehenen Designer—Kuratorin Maria Cristina Didero, die Designer Laura Baldassari und Alberto Biagetti sowie die Designerexperten, die hinter DimoreStudio und Fragile Milano stecken (die allesamt durch ihre Arbeit fortlaufend zu einer Gestaltung eines umfassenderen, weltweiten Verständnisses beitragen)—um ihre Eindrücke der größten Highlights auf dem diesjährigen allseits beliebten globalen Fest für Design in Erfahrung zu bringen. Im Folgenden zählen wir ihre Favoriten auf. 

Laura Baldassari und Alberto Biagetti von Atelier Biagetti 

Mailands Atelier Biagetti ist für seine reizenden, oftmals verspielten Designprojekte bekannt, die gesellschaftliche Umbrüche vor dem Hintergrund des Zuhauses als ein heimisches Theater untersuchen. Bodybuilding, die ironische Kollektion letzten Jahres, wies Objekte auf, die von einer Turnhalle inspiriert und für den Wohnraum konzipiert waren. Sie bestand aus Luxusmaterialien (wie Metalle, Pelze und Leder). Die diesjährige Präsentation mit dem provokanten Titel No Sex war gleichermaßen verspielt. Wie auch No Sex wurde Bodybuilding von der Spitzen-Kuratorin Maria Cristina Didero zusammengestellt (die Auswahl ihrer Lieblingsausstellung ist weiter unten aufgeführt). Anstelle von Schaukelringen und Gymnastikbällen, zeigte die diesjährige Kollektion No Sex das Space Age und anthropomorphe Formen in sinnlichen Nude und Rosa Tönen in einer Ausarbeitung in Leder, LEDs und Latex. Das Studio der Designer wurde in einen rosafarbenen Rückzugsort verwandelt—Rosa bezieht sich dabei „nicht nur auf die Farbe sondern auf einen gemütlichen, aber auch verwirrten Gemütszustand“—eine Wellnessklinik für die Ent- oder Vergiftung einer „Überdosis oder Abstinenz von Sex im heutigen Leben“, je nach den eigenen Bedürfnissen. Es war eine schöne, erregende Szene—mit wieder einmal genau der richtigen Portion Humor und Dramatik gepaart mit ausgezeichneter Ausführung. Wahrlich fantastisch.

Was war also Atelier Biagettis Auswahl der besten Ausstellung auf der Design Week?

Sie liebten The Shit Evolution, eine Präsentation, die sich um ein sehr besonderes Material drehte—Mist—und seiner Leistungsfähigkeit als nachhaltiger Baustoff. Die Ausstellung in der Kunstschule Società d'Incoraggiamento d'Arti e Mestieri (SIAM) zeigte eine Reihe Räume und Objekte, die aus dem „Merdacotta“ hergestellt wurden, ein Material, das auf Kuhfladen und Lehm basiert und auf der norditalienischen Farm von Gianantonio Locatelli verarbeitet wird. Locatelli ist ein landwirtschaftlicher Unternehmer und Besitzer des Museo della Merda (das Shit Museum). (Mehr Informationen zum Verarbeitungsprozess gibt es auf dem Youtube Kanal des Museums Shit TV). The Shit Evolution war eine Zusammenarbeit zwischen Locatelli und dem Architekten Luca Cipelletti. Nach Baldassari and Biagetti ist “Merdacotta eine geniale Erfindung und ein fabelhaftes Material— frei nach dem Motto ‚spare dir Zeit, so hast du in der Not‘, nur etwas übergeschnappter, im positiven Sinne!“ Und sie waren nicht die einzigen, die Gefallen an Shit Evolution fanden. Mit Shit Evolution gewann das Cipelletti das diesjährige Milano Design Award.

Maria Cristina Didero

Die unabhängige Kuratorin Maria Cristina Didero ist die Frau, die hinter einigen der meist gepriesenen Ausstellungen zeitgenössischen Designs der letzten Jahre steht und Größen wie Philippe Malouin, Ron Gilad, Carlo Massoud, Stephen Burks und Studio65 zeigte. (Diesen Sommer ist auch Nendo an der Reihe mit einer mit Spannung erwarteten Ausstellung Design Museum Holon in Tel Aviv.)

Neben ihrem Projekt mit Atelier Biagetti verfasste Didero diesen Monat einen Text, um die  Bronzification Serie des italienischen Designers Francesco Faccin für Fonderia Artistica Battaglia und Nilufar Gallery vorzustellen. Didero schrieb: „Seine Projekte sind nicht laut, vielmehr werden sie geflüstert und präsentieren sich mit Anmut“. Der Beginn von Faccins prozessorientiertem Projekt war ein bescheidenes Holzbrett,  aus dem er eine Wachsform kreierte und in Bronze gegossen als Serie vervielfachte. So entwarf er modulare Stücke, die für eine Kreation etlicher Designs dienen könnte. Jedes der bronzenen Bretter unterscheidet sich leicht von den übrigen und offenbart, so der Designer, den Eindruck von „Übertragung, Bewegung und Handlung“ und feiert so die Schönheit von Unvollkommenheit und die Verbindung von industrieller Wiederholung und Kunst.

Und was zählte noch zu Dideros Lieblingen?

Hocherfreut war sie über An Encounter with Anticipation, eine dreiteilige Installation entworfen von dem stets aufmerksamen italienischen Designerduo Formafantasma für Lexus. Von dem Erbe und der Zukunft der japanischen Automarke inspiriert—insbesondere ihrem jüngsten Concept Car Modell, das LF-FC— umfasste die Ausstellung eine Maschine, die einem Webstuhl ähnelte und tausende Fäden anzog und lockerte, um so einen dreidimensionalen Umriss des neuen Autos zu erschaffen. Außerdem zeigt sie eine Serie Metallhocker, die mit derselben Lackierungsmaßnahme wie das LF-FC behandelt wurden, auf traditionellen japanischen Lackierungsverfahren basierend. Zu sehen war zusätzlich eine kinetische Lichtinstallation, die von fortschrittlicher Wasserstoff- und Brenstoffzellentechnologie angetrieben wurde, einer Technik, die der des neuen Autos ähnelt.

Nach Didero: “Ich glaube, dass Formafantasma das Thema der Bewegung wieder einmal auf eine sehr persönliche und unkonventionelle Art und Weise interpretiert hat. Ihre Betrachtungsweise der Dinge aus einer ungewöhnlichen Perspektive macht sie zu dem eigenartigsten und überraschendsten kreativsten Team der internationalen Designszene.“

Alessandro Padoan, Fragile Milano

Im Alter von jungen reifen 27 Jahren, brachte Galerist Alessandro Padoan Fragile Milano im Jahr 2000 auf den Markt. 16 Jahre später hat Padoan seiner Galerie einen Platz  in der italienischen Designwelt gesichert, als einer der am wenigsten berechenbaren und visuell aufregendsten Entwurfszentren der Szene. Vor zwei Jahren lud Padoan die sagenumwobenen Designer  Francesco und Alessandro Mendini ein, das Interieur seiner Räumlichkeiten auf der belebten Via San Damiano zu entwerfen. Die Resultate waren mutig grafisch, herrlich farbig und so weit entfernt wie möglich von dem traditionellen White Cube.

Auch dieses Jahr wurde die Fuori Salone mit Experimentierfreude in Form von Fragiles Perspectiva Ausstellung Ehre erwiesen. Diese zeigte eine lebhafte Sammlung farbiger, handgewebter Teppiche von Medini und Joseph Carini Carpets aus New York, außerdem eine Lampe von Marco Zanuso Jr., die den Titel Atlantide trägt und handgemachte, polychrome Fischschwärme aus glasiertem Kupfer zeigt. Ebenso zu sehen waren unter anderem Roberto Giacomuccis zauberhafte Empirica Tische aus Messing und farbigem Glas. Die Stimmung war wie immer eine festliche und mutige Feier, die italienisches Design aus dem 20. Jahrhundert zelebrierte.

Was war Padoans Liebling?

Dem Designer gefiel Spring to Mind sehr gut, eine Retrospektive, die Ron Arads Werk des vergangenen Vierteljahrhunderts für Moroso zeigt. Padoan verrät: “Das Marco Viola Studio hat die Retrospektive sehr schön präsentiert. Kuratiert wurde sie von Linda Zanolla. Die Ausstellung vertieft sich in die Geschichte und der Bedeutung der ‚Gestaltung nach dem Entwurf‘. Sie erinnert uns daran, wie wichtig Ron Arad für die jüngere italienische Designgeschichte war. Seine Zusammenarbeit mit Moroso ist ein entscheidender Wendepunkt, als der ‚Made in Italy‘ Kreislauf des Industriedesigns—das bisher so exklusiv gewesen war—sich langsam öffnete und neuen mitwirkenden und Talenten Zugang gewährte.“

Britt Moran und Emiliano Salci von DimoreStudio:

Das DimoreStudio in Mailand wurde 2003 als Studio für Innenarchitektur gegründet und ist für seine vielseitigen Designs bekannt, die mühelos Epochen, Materialien und Stile verbinden. Gründungspartner Britt Moran und Emiliano Salci haben für renommierte Privatkunden als auch für gewerbliche Auftraggeber auf der ganzen Welt Räume und Objekte entworfen. Auf romantische Art und Weise stellen sie Designklassiker und frisch maßangefertigte Stücke her. Auf diesem Salone schmückten sie ihr Via Solferino Apartment und Showroom mit ihrer neuesten Kollektion, die Möbel, Textilien und Tapete umfasst und durchwegs auf die 60er und 70er Jahre verweist. In ihrem Werk erkennt man ihre Anerkennung Maria Pergays und Nanda Vigos, als auch „einen Hauch Inspiration durch Landschaftsmalerei“.

Dimores Wahl?

Der Besuch des Apartments des berühmten Mailänder Architekten Piero Portaluppi (1888-1967) bereitete Moran und Salci viel Freude. Auf den Architekten gehen eine Reihe großartiger Bauten in Mailand zurück—darunter die beeindruckende Villa Necchi Campiglio—sowie das italienische Pavillon für die Exposició Internacional de Barcelona von 1929. Die Eröffnung von Portaluppis Residenz, die sich mitten in der Casa degli Atellani befindet, wurde von der Fondazione Piero Portaluppi organisiert. Die Residenz ist heute das Zuhause von Portaluppis Enkel, dem Architekten Piero Castellini. Dem Dimore-Duo zufolge, war es sehr „inspirierend, ein weiteres Beispiel von Mailands berühmtesten Architekten zu sehen“.

*Ein großer Dank an alle unsere Experten für ihren Zeitaufwand und für ihre Beiträge!

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