Designlegende Giulio Cappellini über Zusammenarbeit, Vision und Bauchgefühl


Il Maestro

Von Anna Carnick

Der italienische Designer und Kreativdirektor Giulio Cappellini könnte einen mächtig einschüchtern wäre er nicht so... naja, liebenswert. Seit über dreißig Jahren führt er einen der berühmtesten, zukunftsweisendsten Markennamen der Welt an. Das Familienunternehmen Cappellini wurde 1946 gegründet und als Giulio in den frühen 80ern beitrat, baute er das Unternehmen von handwerklich basierter Möbelproduktion zu einem internationalen—und wegweisenden—Design Hersteller aus.

Dies gelang ihm durch seine kompromisslos globale Perspektive; er entdeckte und unterstützte innovative Nachwuchstalente weltweit und baute mit ihnen persönliche Beziehungen auf. Unter ihnen befinden sich Namen wie Tom Dixon, Jasper Morrison, Nendo, Inga Sempé und unzählige andere. Die Resultate sprechen für sich. Ob Shiro Kuramatas Pyramid Kommode, Tom Dixons Bird Schaukelliege oder Marcel Wanders' Knotted Chair, das Portfolio der Marke Cappellini besteht aus einer fast unglaublichen Anzahl an ikonischen Designstücken. Zum jetzigen Zeitpunkt befinden sich tatsächlich über 30 dieser Stücke in Museumsbeständen auf der ganzen Welt.

Wir hatten die Ehre mit Herrn Cappellini über seine Karriere, die anhaltende Freude an der Suche nach neuen Talenten und das Erbe, das er hinterlassen möchte, zu sprechen.

Anna Carnick: Sie haben in den letzten Jahrzehnten weltweit große Talente gefunden (und unterstützt) und ihre Begabungen durch Zusammenarbeit vorangebracht. Wie wählen sie die Designer, mit denen sie arbeiten möchten, aus? Gibt es etwas, das alle Designer mit denen sie arbeiten verbindet?

Giulio Cappellini: Neue Designer zu entdecken ist ein sehr intuitiver Prozess. Das Aufeinandertreffen erfolgt auf sehr unterschiedliche Arten, aber die Entscheidung kommt immer aus dem Herzen, wenn ich instinktiv einen Prototypen oder eine Skizze betrachte oder einfach mit einem Designer spreche und eine Verbundenheit spüre. Häufig sehe ich ein Objekt, das ich gerne in meinem Haus hätte und dann weiß ich, dass es perfekt für die Kollektion von Cappellini ist. Die Designer, mit denen ich arbeite, haben ganz unterschiedliche Ansätze und das respektiere ich, aber es gibt irgendwo eine Gemeinsamkeit—etwas zugleich sehr Instinktives und Präzises—das die individuellen Produkte mit einem größeren globalen Projekt verbindet.

AC: Können Sie ein oder zwei Beispiele für ein bestimmtes Design nennen, von dem Sie, als Sie es sahen, sofort wussten, dass sie es für ihr Haus (und somit auch für die Cappellini Marke) wollten? 

GC: Den S-Chair von Tom Dixon (1991) und Thinking Man’s Chair (1988) von Jasper Morrison, beide für Cappellini.

AC: Gibt es momentan Nachwuchsdesigner, die Sie besonders beeindrucken?

GC: Junge und vielversprechende Designer gibt es überall auf der Welt. In Italien finde ich Lanzavecchia + Wai aufgrund ihres kultivierten und kosmopolitischen Ansatzes unglaublich interessant. In Nordeuropa beeindruckt mich die elegante Schlichtheit von GamFratesis Designsprache. Zusätzlich gibt es viele talentierte Nachwuchsdesigner im Fernen Osten und Südamerika.

AC: Wie würden Sie Ihre Herangehensweise an eine Zusammenarbeit mit Designern beschreiben?

GC: Am Anfang einer Zusammenarbeit mit einem neuen Designer setze ich im Bezug auf Typologien, Materialien oder Technologien keine Grenzen. Ich sage einfach zum Designer: Schau dir den Katalog von Cappellini an und entwirf etwas, das da gut reinpasst.

AC: Sie haben über die Jahre mit so vielen herausragenden Designern gearbeitet. Gibt es da etwas, das für Sie besonders hervorsticht—irgendwelche besonders erfreulichen, bereichernden oder besonderen Zusammenarbeiten mit Designern?

GC: Ich hatte das Glück viele Designer zu treffen und mit ihnen zu arbeiten. In manchen Fällen begann das Verhältnis als Freundschaft, die dann zur Kreation eines Produktes führte oder als Kooperation, die zu einer späteren Zusammenarbeit führte. Mit anderen waren es einfach unabhängige Freundschaften, aus denen keine professionelle Zusammenarbeit wurde. Ich denke da an Konstantin Grcic, Hella Jongerius und viele andere.

Giulio Cappellini Foto © Mattia Balsamini für Pamono
Der postmoderne Geist hat definitiv beeinflusst wie ich arbeite, indem er mir den Mut gegeben hat, etwas zu wagen.   AC: Ursprünglich war es nicht Ihr Plan für das Familienunternehmen zu arbeiten. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

GC: Ich sah mich als Designer und Architekten. Als ich anfing für das kleine Familienunternehmen zu arbeiten um etwas Geld zu verdienen merkte ich, dass ich an der geschäftlichen Seite interessiert war. Und plötzlich, an einem Abend, entschloss ich mich diesen Weg einzuschlagen. Ich treffe meine Entscheidungen immer instinktiv, ohne viel Zweifel.

AC: Was waren die Überlegungen dahinter, den Schwerpunkt der Marke Cappellini von Tischlermöbeln zu internationaleren Designs und Herstellungsmethoden verschieben zu wollen? Und wie gelang so eine große Veränderung?

GC: Das geschah alles aus Zufall und aus Leidenschaft, es gab keinen wirklich klaren und vorgegebenen Plan. Auf Reisen entdeckte ich, wie viele wunderbare Dinge es gibt, die man mit Design machen kann. Ich wollte junge Designer aus verschiedenen Teilen der Erde unterstützen, deren Talent groß genug für die weltweite Bühne war. Dank internationaler Zusammenarbeiten wuchs das Unternehmen Schritt für Schritt und wurde weltweit bekannt. Während dieser gesamten Erfahrung wurde ich von Leidenschaft, Neugier und Professionalität geleitet.

AC: Welche Rolle spielt die Geschichte italienischen Designs im Bezug auf Ihre ästhetische und/oder kreative Herangehensweise?

GC: Das Wissen um italienische Designgeschichte und insbesondere um deren Ursprung war in meiner Ausbildung sehr hilfreich. Zudem hatte ich das Privileg während meiner Studienzeit am Polytechnikum in Mailand ein Jahr lang im Büro von Gio Ponti, dem großen Protagonisten dieses unglaublichen Abenteuers, zu arbeiten. Aber es hat mich schon immer interessiert was im Ausland passiert; hinter jedem großen Projekt stecken große Personen. Was mich an der Geschichte italienischen Designs immer am meisten beeindruckt hat, ist das große Bedürfnis von Unternehmern, Innovationen zu schaffen und zusammen mit starken Designern neue Wege zu finden.

AC: Sie übernahmen die Führung des Familiengeschäfts in der Hochphase des Postmodernismus; wie hat der Geist dieser Ära Sie beeinflusst?

GC: Die postmoderne Bewegung führte dazu, dass das klassische, bürgerliche italienische Design in Mailand überdacht wurde. Ich liebe die Farben und die Strukturen und der postmoderne Geist hat definitiv beeinflusst wie ich arbeite, indem er mir den Mut gegeben hat, etwas zu wagen.

AC: Wo würden Sie sagen hat sich das Verhältnis zu Design—oder sogar die Branche an sich—seit Ihren Anfängen am meisten verändert?

GC: Das Design und die industrielle Produktion haben sich verglichen mit damals sehr verändert—vielleicht etwas zu sehr! Momentan beobachten wir, wie die Kunden verzweifelt nach Ruhe und Sicherheit suchen. Dieser Trend birgt das Risiko langweilig und seelenlos zu werden.

AC: Haben Sie irgendwelche Prognosen wie die Branche sich in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten verändern wird?

GC: Es wird sicherlich große Veränderungen geben, die vor allem mit den sich verändernden Erwartungen der Endverbraucher zusammenhängen. Sie möchten unterschiedliche Produkte kombinieren und Umgebungen schaffen, die ihre Persönlichkeit reflektieren. Einladende Wohnräume und Arbeitsplätze entfalten sich sehr schnell und daher müssen Industrien und Designer genau darauf achten, Produkte herzustellen, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Kunden entsprechen: hübsche und nützliche Produkte, die einen vor allem zum Lächeln und Träumen anregen.

AC: Was sind die wichtigsten Lektionen, die Sie gelernt haben seitdem Sie '79 das Familiengeschäft übernahmen?

GC: Glaube immer an das, was du tust. Hinterfrage. Arbeite mit großer Ausdauer—und einer Portion Ironie und Humor.

AC: Was waren die größten Risiken, die Sie mit der Marke eingegangen sind? (Und sind Sie rückblickend froh darüber?)

GC: Sowohl persönlich als auch professionell bin ich immer Risiken eingegangen. Ich habe immer alles für die Projekte und Menschen, an die ich glaube, gegeben. Könnte ich nochmal zurück gehen, würde ich wahrscheinlich alles nochmal genauso machen, sowohl das Gute als auch die Fehler. [Nachdem das gesagt ist], das größte Risiko war und ist immer noch auf neue, junge Designer zu setzen—in sie zu investieren und zu hoffen, dass sie gute Produkte für Cappellini machen können und zu weltweit bekannten Designern werden.

AC: Wenn Sie sich für ein Merkmal der Ästhetik von Cappellini entscheiden müssten, das sie am meisten von anderen heutigen Designern abhebt, was wäre das?

GC: Ausdrucksfreiheit und der Wille für immer innovativ zu bleiben.

AC: Gibt es irgendwelche kommenden Projekte oder Veranstaltungen von denen wir wissen sollten?

GC: Ich arbeite immer gerne an neuen Projekten. Inzwischen denke ich statt an ein einziges neues Produkt lieber an neue Landschaften, die die tatsächliche Art unserer Bewegungen in zeitgenössischen Wohn-, Geschäfts- und öffentlichen Räumen spiegeln.

AC: Was möchten Sie als Ihr Erbe hinterlassen?

GC: Ich versuche—gemeinsam mit einer vielfältigen Auswahl an Designern—eine Kollektion klassischer Contemporary Designs zu kreieren, Produkte, die sich heute neu anfühlen und außerdem zeitlose Bestseller sind. Ich hoffe, dass Cappellini auch in der Zukunft bestehen wird und weiterhin eine multikulturelle Sammlung ist, die die konstante Weiterentwicklung des zeitgenössischen Lebensstils spiegelt.

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    • Anna Carnick

      Anna Carnick

      Als ehemalige Redakteurin bei Assouline, der Aperture Foundation, Graphis und Clear feiert Anna die großen Künstler. Ihre Artikel erschienen in mehreren angesehenen Kunst- und Kulturpublikationen und sie hat mehr als 20 Bücher herausgegeben. Sie ist die Autorin von Design Voices und Nendo: 10/10 und hat eine Leidenschaft für ein gutes Picknick.
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    • Mattia Balsamini

      Mattia Balsamini

      After a number of years freelancing while traveling, Mattia moved back to his home town of Pordenone, Italy, where he continues to pursue his passion for photography. He loves bread, apples, warm weather, and fast alpine skiing.

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