Annalisa Rosso spricht mit Fulvio Ferrari über die geheimnisvolle Designlegende


Auf den Spuren von Carlo Mollino

Von Annalisa Rosso

Während des letzten Jahrhunderts lebte und arbeitete der Universalgelehrte Carlo Mollino  in Turin. Sein provokativer übergreifender Grundsatz: „Alles ist erlaubt, solange es fantastisch ist.“

In all seinen Bestrebungen—von Design, Architektur, Fotografie, Wettrennen, Skifahren über Fliegen—kombinierte Mollino die rationale Strenge eines Ingenieurs mit der Neugierde eines Philosophen und der weltgewandten Raffinesse eines Lebenskünstlers. Die Mischung dieser gegensätzlichen Elemente hat eine atemberaubende Wirkung und ist ganz sein Eigen. Beinahe jeder Entwurf Mollinos stellt ein einzigartiges, maßgeschneidertes Objekt dar und verkörpert die Begeisterung des Designers, für die in der Natur vorkommende geschwungene Linienführung.

Mollinos Geschichte bleibt verborgen—nicht zuletzt aufgrund mancherlei Vorurteile gegenüber seinem teilweise schockierenden Verhalten. Seine Designs erfreuen sich dennoch bei Sammlern weltweit zunehmender Beliebtheit. Um mehr über diese mysteriöse, aber einflussreiche Persönlichkeit zu erfahren, setzte ich mich mit dem Mollino-Experten Fulvio Ferrari zusammen. Dieser gründete und leitet gemeinsam mit seinem Sohn Napoleone das Carlo Mollino Museumshaus und die Carlo Mollino Stiftung in Turin.

Annalisa Rosso: Was meinen Sie sollte jeder über Carlo Mollino wissen?

Fulvio Ferrari: Mollino war ein außergewöhnlicher Mensch, der sich besonders für die klassische Kultur interessierte. Er war auf der Suche nach einer philosophischen Antwort auf die ewige Frage „Warum sind wir hier?“ Seine Erforschung des eigenen Inneren brachte eine besondere Ästhetik hervor. Er war in erster Linie Künstler, der es verstand, sich grenzenlos auszudrücken.

Carlo Mollino in the 1940s Courtesy of Museo Casa Mollino
AR: Welche Geschichten zeugen besonders von Mollinos außergewöhnlichem Talent und von seiner Vision?

FF: Seine Fähigkeiten waren überdurchschnittlich. Durch seine außerordentliche Intelligenz hatte er ein klares und detailliertes Bild seiner Arbeit im Kopf. Mit sechs Jahren zeichnete er den Querschnitt eines Verbrennungsmotors. Mit 28 hatte er bereits seine Autobiografie verfasst. Bei seinen Entwürfen näherte er sich stets der Idealform und bearbeitete konsequenterweise seine fertigen Designs. Oft retuschierte er Werkabbildungen, um seiner Vision noch näher zu kommen. Am Anfang seines Buches Introduzione al Discesismo von 1950 zeigt ein besonders dramatisches Foto einen einsamen Skifahrer umgeben von einer Naturlandschaft. Der dunkle Himmel und die Gletscherspalten wurden umgestaltet und auch der Skifahrer selbst wurde von Mollino konzipiert. Es ist ein gestelltes Bild, das die Realität um phantastische Elemente erweitert.

 AR: Woher kam diese Inspiration?

 

FF: Mollino studierte die sagenhafte Schönheit der Natur in all seinen Formen. Seine Architektur, Fotografien und Möbel nähren sich allesamt von organischen Naturgesetzen. Insbesondere die weichen Kurven des weiblichen Körpers dienten dem Designer als Inspiration. Mollino war überzeugt, dass wir alle Bestandteil der Natur sind und auch mit ihr mitfühlen. Der Flug eines Reihers oder das Blau des Enzians sind Aspekte natürlicher Schönheit und Teil eines jeden von uns. Und deshalb ist Mollinos Werk meiner Meinung nach so besonders: Es erfüllt uns mit Überraschung und Staunen und erweckt in uns denselben mentalen Vorgang, der uns die Schönheit eines Sonnenuntergangs erkennen lässt—pure Verzückung, die uns mitten ins Herz trifft.

AR: Was sind die Schattenseiten von Mollinos Geschichte?

FF: Mollinos damnatio (Verdammnis) geht auf die irreführende moralische Darstellung seiner Arbeiten zurück. Die grenzenlose Freiheit, mit der er jeden Lebensaspekt erforschte, wurde damals nicht akzeptiert, und vielleicht sogar auch heute nicht. Das möchte ich im Folgenden weiter ausführen: Wie würde sich unser Bild von Gio Ponti ändern, wenn sich herausstellen würde, dass sich in seinem Archiv tausende Porträts von Frauen en deshabillé (unbekleidet) befänden? Letztendlich müssen wir bedenken, dass Mollino mehr war als nur Designer, Architekt oder Fotograf . . . er war ein facettenreicher, kreativer Mann seiner Zeit, dessen Profil nicht leicht verstanden wird.

The Museo Casa Mollino © Adam Bartos; courtesy of Museo Casa Mollino
AR: Warum wird Mollinos Werk auch heute noch eifrig gesammelt?

FF: Mollinos Werk ist extrem modern—wir sprechen aber über einen Mann, der immer zeitgemäß bleiben wird. In seiner Jugend genoss er eine klassische Ausbildung, die sich mit in antiken Zivilisationen und aufkommenden philosophischen Fragen befasste—dem Wunsch, den Menschen und seine Probleme zu verstehen—die immer zeitlos sind. Ein Beispiel ist der Lutrario Festsaal, den Mollino 1959 entwarf und dessen Interieur ein zentrales Problem darstellte: nur über einen langen Gang konnte die Tanzfläche erreicht werden. Durch aufwendige Verzierung wandelte Mollino diesen Gang in eine Art Holzpfad um, der zu einer idyllischen Lichtung führte, die sich ideal zum Tanzen eignete. Dieser Festsaal ist zu einem zeitlosen Bild für die Träumerei Liebender jeglichen Alters geworden.

AR: Was sind die Ursprünge des Mollino Museumshauses?

FF: Mollino plante dieses Haus acht Jahre lang—von 1960 bis 1968. Das war für ihn eine ungewöhnlich lange Zeitspanne, normalerweise arbeitete er sehr schnell. Wenn man die Möbel und Fotos entfernen würde, würde das Haus mit Mollinos Persönlichkeit nicht übereinstimmen. Bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1973 wohnte er in seinem alten Familienhaus. Hier wohnte er nie. Er hinterließ kein Testament und hatte auch keine Erben. Bis 1999 wohnte ein Ingenieur in diesem Haus, der es zum Glück nur wenig veränderte. Mollino redete nie über dieses Haus, sodass es sehr schwierig war, die Verschwiegenheit über dieses Projekt zu verstehen. Aber dank eines Symbols und der Hilfe eines bekannten Ägyptologen erkannten wir, dass dieses Haus als Wohnraum für das Jenseits gedacht war! Mollinos Absicht war es, diese Welt als Art finales Projekt über das Leben zu entwerfen. Wir übernahmen 1999 das Haus und renovierten es, um den ursprünglichen Zustand so gut als möglich wieder herzustellen.

AR: Was meinen die Besucher dazu?

FF: Die Besucher sind total entzückt. Sie verlassen das Haus verträumt und sind von dem Projekt des Hauses begeistert. Sie sind unsere besten Kommunikationsagenten. 80% der Besucher reisen aus dem Ausland an. Sie sind generell irgendwie mit der Kunstwelt verbunden, nicht mit Architektur oder Design. Carlo Mollino unterrichtet seine Besucher nicht—er lädt sie dazu ein, seine Welt zu entdecken. Die Projekte Mollinos strahlen das Innere des Designers aus—nicht die Lehren, sondern die echten Lebenserfahrungen. Deshalb hinterließ Mollino auch keine Schüler: seine Arbeit war viel zu persönlich, um eine Gefolgschaft zu gewährleisten.

 

Das Museo Casa Mollino ist für Besucher nur nach Vereinbarung geöffnet.

Via Giovanni Francesco Napione 2

10124 Torino

+39 011 8129868

casamollino@fastwebnet.it

  • Text von

    • Annalisa Rosso

      Annalisa Rosso

      Annalisa is a freelance journalist, trendsetter, and independent curator often hired as an Italian correspondent on design and contemporary art. She is curious about everything, always looking for something new. Because unrest is a good engine.