Ein Besuch im Studio der Londoner Keramikkünstlerin Tessa Eastman


Auf dem neuesten Stand der Tradition

Von Wava Carpenter

Kurz nachdem ich das Werk der Keramikkünstlerin Tessa Eastman kennenlernen durfte, zeigte ich einem Designkollegen ihre außerordentlichen, fremdartigen Keramiken. „Ach, sie nutzt einen 3D Drucker?“ meinte er, meine Begeisterung hinterfragend. „Nein“, widersprach ich. „Sie fertigt ihre Objekte alle in Handarbeit.“ Daraufhin entriss er mir mein Handy und vergrößerte den Bildschirm.

Eastman wurde in London geboren, wo sie auch heute noch lebt und arbeitet. Die Arbeiten der Designerin sind so aufrichtig und intellektuell wie sie selbst. Mit ihrem gleichzeitig bescheidenen und studierten Auftreten erfindet sie die Tradition der Keramik neu. Während Eastman das Rampenlicht scheut, tritt ihr Werk in den Vordergrund, als leuchtende multidimensionale Skulpturen und Gefäße, die alle Blicke auf sich ziehen. Für Keramikfans ist Eastman ein kleines Wunder. Ihre Arbeiten zeugen sowohl von einem fundierten Wissen uralter Lehmverarbeitung, als auch den neuesten Kenntnissen hinsichtlich Pigment- und Lasurtechniken. „Wie macht sie das bloß?“ ist immer die erste Frage, gefolgt von „Wie bekommt sie diese Farben und Texturen hin?“ Aber sogar diejenigen, die sich mit der zeitgenössischen Designszene nur wenig auskennen, empfinden Eastmans Arbeiten als unvergesslich. So einzigartig sind sie.

Wir hatten das Vergnügen, Eastman in ihrem Studio zu treffen und aus erster Hand zu erfahren, wie sich diese Alchemie abspielt. Wir stellen im Folgenden eines der Nachwuchstalente auf dem Gebiet der Keramik vor.

WC: Für einen Teil des Pamono Publikums mag Keramik noch Neuland sein. Was macht deiner Meinung nach das Material so besonders?

TE: Als Material ist Keramik wirklich magisch. Mit Geschick kann es verarbeitet, mit  Naturwissenschaft von einem formbaren Lehm zu einer dauerhaften Form verwandelt werden. Die Tatsache, dass dieses Material die Essenz der Erde ist, aus dem Boden kommt und eine Geschichte mit sich bringt, die so alt ist wie die Menschheit selbst, verleiht ihm einzigartige Vitalität. Ich finde, dass sich seine Energie vervielfacht, wenn Künstler von heute sich ihm widmen, um eine zeitgenössische Ästhetik zu erzielen. Das Zusammenspiel von uraltem Material und frischen Ideen finde ich sehr spannend. Ich versuche, die bildhauerischen Grenzen des Materials auszuweiten, um Objekte herzustellen, die voller Ausdruck und Sensibilität sind.

Um Keramik zu schätzen, muss man die physischen Eigenschaften des Materials verstehen, sowie die unverwechselbare Qualität handgemachter Objekte. Der Markt für Keramiken ist im Gegensatz zu dem für massenproduzierte Ware noch relativ klein, aber er wächst stetig. Ich glaube, die Menschen verstehen langsam, dass wunderschöne, dekorative Objekte für Zuhause so „unerlässlich“ sind wie alles andere auch. Der Alltag wird mit diesen einzigartigen, handgemachten Objekte bereichert, durch die die Seele des Künstlers hindurch scheint.

WC: Du hast Keramik in beeindruckenden Einrichtungen studiert, schon seitdem du Teenager bist. Kannst du uns verraten, wie deine Arbeit sich über die Jahre entwickelt hat?

TE: Ich fühle mich extrem privilegiert, am Wimbledon College of Art, der University of Westminster und dem Royal College of Art studiert zu haben. Die Studienleiter dieser Universitäten haben meine Arbeit wesentlich beeinflusst.

Annie Turner, meine ehemalige Lehrkraft am Wimbledon College und angesehene Keramikkünstlerin, hat mich sehr inspiriert. Annies Werk weist Bezüge zum Deben Fluss in Suffolk auf und zu den Verbindungen, die ihre Familie zu diesem Ort hat. Wir haben beide eine Affinität  zu Oberflächen und zu den Jahreszeiten, die von dem Fortschreiten der Zeit zeugen. Annie zeigte mir, dass weniger mehr sein kann, was ich anfangs nur schwer begriff. Ich habe nämlich ein angeborenes Faible für Maximalismus und starke Farbigkeit. Ich entwarf eine Installation von Skulpturen, basierend auf Knochen, Muscheln, Algen und am Strand gefundenen Objekten, präsentiert auf und in geprägten Felsen, Fußabdrücken und Sandfliesen. Dazu nutzte ich eine Reihe an Texturlasuren, ausgehend von der Farbpalette des Meeres und des Sandes.

An der University of Westminster (oft auch Harrow genannt, da es sich aus dem Harrow Art College entwickelte) hatte ich das große Glück, ebenfalls Studienleiter zu haben, die als Keramikkünstler tätig sind. Steve Buck hatte großen Einfluss auf mein Werk. Wir teilen beide eine Liebe für zeitaufwendiges Handgemachtes mit der gelegentlichen Hinzunahme von Gussformen. Er ermutigte mich, das Ungewöhnliche und Ungeheure anzunehmen und somit produzierte ich acht Jahre lang Arbeiten in diesem Stil. Ich entwarf das beliebte Burning Slices of Death Cake, das auf dem Five Decades of Harrow Ceramics 2012 im Londoner Contemporary Applied Arts präsentiert wurde. Melon Berry Burst zeigt eine große blühende Blume mit Staubblättern als Beine. Es sieht aus, als ob Menschen verschlungen wurden. Diese Arbeit kaufte ein exzentrischer Keramiksammler auf meiner Diplomausstellung.

Nach einiger Zeit wollte ich für meine Arbeit etwas anderes. Deshalb bewarb ich mich an dem Royal College of Art. Dort studierte ich von 2013 bis 2015. Die renommierte Keramikkünstlerin Felicity Aylieff brachte mir bei, auf einer ganz neuen Art zu denken. Ich distanzierte mich von naivem Kitsch und setzte mich intensiver mit der kuriosen Mehrdeutigkeit von Naturereignissen und mikroskopischen Organismen auseinander. Kompetenz in der Konstruktion war von zentraler Bedeutung für mich, und ich wurde darin bestärkt, mutig und experimentierfreudig zu agieren. Ich entwickelte meine eigene Reihe brennbarer Lasuren, die eine unglaubliche Tiefe und Struktur aufweisen (im Gegensatz zu den flachen kommerziellen Lasuren, die ich in Harrow benutzte). Ich entwarf Residing Cloud und Blood Crystal in Midnight Element, die beide bei der Diplomausstellung verkauft wurden.

Melon Berry Burst by Tessa Eastman (2006) Melon Berry Burst by Tessa Eastman (2006) Photo © Tessa Eastman
WC: 
Bei unserem ersten Treffen redeten wir darüber, dass Keramik wieder im Kommen sei. Warum denkst du, ist das so? Kannst du irgendwelche allgemeinen kulturellen Trends erkennen?

TE: Das Leben heute, vor allem in Städten, ist schnelllebiger als je zuvor. Viele Menschen arbeiten in Büros. Insgesamt gibt es ein wachsendes Verlangen nach einer ganzheitlichen Lebensweise. Das erkennt man an dem Bio-Wahn und der Beliebtheit von Yoga und Pilates. Ich sehe, dass eine wachsende Anzahl an Studenten sich für Keramikkurse einträgt, weil sie ihre Hände benutzen wollen, sich beschäftigen möchten, und zu dem hektischen Alltag einen Ausgleich suchen. Fernsehsendungen wie The Great Pottery Throw Down der BBC haben ebenfalls zum wachsenden Interesse an Keramik beigetragen.

Ich freue mich, dass große Möbelhäuser wie Heals handgemachte, ethisch bezogene Objekte von zeitgenössischen Herstellern bewerben, anstelle von im Ausland produzierter Massenware. Sie haben Hersteller eingeladen, im Warenhaus auszustellen, um der Öffentlichkeit ihr Können zu zeigen. Ich sehe immer mehr etablierte Restaurants, die Werke von Künstlern oder Designern standardisierter, massenproduzierter Ware vorziehen. Sketch, zum Beispiel, zeigte eine Reihe Arbeiten von David Shrigley. Wenn man einen Teeraum von Sketch besucht, besteht das Geschirr aus Vintage und nicht zusammenpassenden Stücken, was für ein einmaliges Erlebnis sorgt.

Menschen sind zunehmend auf der Suche nach Schönheit und neuen Erlebnissen. Ich finde, dass Keramikskulpturen das Leben bereichern, indem sie Kontemplation und Reflektion fördern. Insbesondere die Keramik führt uns zurück zu unseren menschlichen Wurzeln und erinnert uns an die wichtigen Dinge im Leben, wie Raum, Ausgeglichenheit und Freude.

WC: Du hattest erwähnt, dass du dich für die „Seltsamkeit“ der Welt interessierst, oder zumindest an der Interaktion mit ihr interessiert bist. Wie spiegelt sich das in deinen Arbeiten? Wie möchtest du, dass die Betrachter auf dein Werk reagieren?

TE: Ich war schon immer inspiriert von der Seltsamkeit dieser Welt, der ich jeden Tag begegne. Meine frühen Arbeiten haben eine etwas kitschige Ästhetik. Ich überarbeitete unschuldige Kinderspielsachen, um sie in witzige, makabre Keramikskulpturen umzuwandeln. Heute beobachte ich die seltsamen Systeme und Anomalien, die in der Natur vorkommen, und vergleiche sie mit menschlichen Beziehungen. Für mich spiegeln menschliche Emotionen die sich ständig ändernden Zyklen wieder, die sich in den Rhythmen der Erde zeigen. Von Geburt bis Tod folgt die Natur einem Auftrag. In dieser Zeit können Dinge schief gehen oder aus den Fugen geraten, weil Veränderungen unvermeidlich sind.

Ich finde in der Idee des Widerspruchs oder des Konflikts meinen Frieden, weil sich Gegensätze anziehen und einen Ausgleich herstellen. Eastman's pigment and glaze experiments Photo © Marco Lehmbeck for Pamono
In meinem Werk baue ich beispielsweise eine Verbindung zu vorbeiziehenden Wolken auf. Ich mag den Zwiespalt, da Wolken verträumt und voller Möglichkeiten sein können oder drohendes Unheil ausdrücken. Ich finde Gefallen an diesem seltsamen Gegensatz und an der sich ständig verändernden Wolkenbildung. Ich finde in der Idee des Widerspruchs oder des Konflikts meinen Frieden, weil sich Gegensätze anziehen und einen Ausgleich herstellen. Wenn Unterschiede zusammenkommen, zeigt sich Optimismus. Wenn das Leben nur positiv wäre, dann gäbe es keine Wertschätzung. Augenblicke der Niedergeschlagenheit helfen einem dabei, Genuss und Verbindung zu würdigen.

Es ist meine Intention, dass die Menschen sich irgendwie mit der Idee ihrer eigenen Vergänglichkeit anfreunden und den Augenblick genießen lernen. Ich hoffe, die Menschen werden einen weniger klassischen Schönheitsbegriff wertschätzen und dass dies dazu führt, dass sie das Chaos des Lebens würdigen, an dem wir alle teilhaben. Mir ist vor allem wichtig, dass jeder seinen eigenen Bezug zu meinen Arbeiten findet. Das ist das Schöne daran, Künstler zu sein.

WC: Wie erfolgt eine geschichtliche Abgrenzung von Design und Handwerk in deiner eigenen Arbeit?

TE: Menschen sind immer auf der Suche nach neuen Gestaltungsformen, neuen Materialien und neuen Möglichkeiten. Die Grenzen der verschiedenen Fachrichtungen verschwimmen zunehmend. Als Beispiel: Traditionell ausgebildete Handwerker nutzen jetzt 3D-Drucktechniken, um Töpfe herzustellen. Ironischerweise ahmt dieser Prozess das uralte Herstellungsverfahren von Töpfen nach. Der 3D-Ducker arbeitet mit Tonwülsten und rollt Formen mittels eines durch den Computer generierten Entwurfs auf.

Am Royal College versuchten sich Produktdesigner und Architekten in die Keramikabteilung zu integrieren, um die Ausstattung zu benutzen. Dies bereitete den Technikern Sorge, denn die Ausstattung ist hochgradig spezialisiert und nicht für Anfänger geeignet. Ein Designer sprach mich kürzlich darauf an, ob ich ihm zeigen könne, wie man Keramik auf der Scheibe dreht. Ihm war nicht bewusst, dass diese Technik sich nicht in ein paar Tagen meistern lässt, sondern Jahre regelmäßiger Übung erfordert!

Ich denke aber auch an Abwechslung in meiner eigenen Arbeit. Es scheint heute nicht auszureichen, nur auf einem Gebiet tätig zu sein. Es geht viel um Branding und darum, sein Werk an den richtigen Ort zu platzieren, damit die richtigen Leute es sehen. Der Keramikkünstler, Designer, Architekt oder bildende Künstler muss entscheiden, wo er auf dem Markt in Bezug auf seine Arbeit platziert werden möchte.

Meine Arbeiten verlassen das Atelier, um in Innenarchitektur-Outlets, zeitgenössische Galerien für Keramik oder Kunstgalerien zu wandern, wo sie neben Malerei und Bildhauerei ausgestellt werden. Ich habe an Orten gezeigt, die sich auf vintage und antikes Mobiliar spezialisieren, wie dem Biedermeier und dem Art Déco, und die Stücke ergänzen sich wirklich prächtig. Ich wurde kürzlich gebeten, eine funktionelle Kollektion zu entwerfen, die in Michelin Star Restaurants Verwendung finden soll. Da muss ich mir noch was überlegen, denn meine Lasuren sind nicht für Speisen gedacht.

Das Gute an dieser zeitgenössischen Szene ist, dass es eine hohe Nachfrage an hochwertigen, handgemachten zeitgemäßen Ausdrucksformen gibt. Ich habe riesengroße Möglichkeiten meine Fähigkeiten und mein Handwerk zu verbessern. Ich strebe in meinen Arbeiten eine zeitlose Qualität an, in jeglicher Form. In diesem Sinne muss ich zugeben, dass doch der Hauch eines Traditionalisten in mir steckt.

  

* Wenn Sie dazu Gelegenheit haben, das Werk von Eastman persönlich zu besichtigen, das neben Arbeiten von Michal Fargo ausgestellt wird, besuchen Sie die Puls Contemporary Ceramics Gallery vom 11. März bis zum 15. April 2017. 

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    • Wava Carpenter

      Wava Carpenter

      Seit ihrem Studium in Designgeschichte an der Parsons School of Design hatte Wava schon in vielen Bereichen der Designkultur den Hut auf: sie lehrte Designwissenschaft, kuratierte Ausstellungen, überwachte Auftragsarbeiten, organisierte Vorträge, schrieb Artikel und erledigte alle möglichen Aufgaben bei Design Miami. Wava lässt den Hut aber im Büro – auf der Straße bevorzugt sie ihre Sonnenbrille.
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    • Marco Lehmbeck

      Marco Lehmbeck

      Aufgewachsen ist Marco zwischen Seen und Wäldern in der Nähe von Berlin. Er studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim sowie Fotografie in Berlin. Marco ist Organisationsmitglied des Immergut Musikfestivals für Indie- und Poprock, liebt Backpacking, Club Mate und Avocados. Und er trägt immer einen Hut.

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